Was wissen wir über unser Reiseziel? Fragen, Klischees, Halbinformationen begleiten uns auf der Reise nach Charkow/Charkiv, in den Osten der Ukraine: Wie weit ist es bis zu den Kriegsgebieten (ca. 250 km), wie nah zur russischen Grenze (ca. 35 km), wie ukrainisch sieht sich eine mehrheitlich russisch sprechende Stadt? Und wie wird ein Gastspiel in deutscher Sprache aufgenommen?
Wir kommen in eine ansehnliche und auch sehenswerte Metropole, es gibt viele schöne Häuser und Straßenzüge im Zentrum, interessante Bauten, fast mehr SUVs als in München, und kaum jemand ist ohne Smartphone unterwegs. Alles klappt, alles funktioniert, alle Klischees bleiben auf der Strecke. Wir haben zwei Auftritte in Schulen, ja, auf Deutsch, vor 15/16-jährigen, wir können uns verständigen und sehen kaum einen Unterschied zu gleichaltrigen Schülern hier, höchstens, dass es weniger kunstzerrissene Hosen gibt, aber das mag andere Gründe haben.
„Vor 5 Jahren sah es hier noch ganz anders aus“ – so erfahren wir, und wir dürfen staunen, was sich in diesem Land seither getan hat, nach Auflösung der Sowjetunion, Welt-Finanzkrise und Bürgerkrieg (der ja immer noch andauert). „Leb wohl, Vergangenheit!“ – so heißt es auf einem Wandbild von ‚Chamlet‘, dem ‚Charkower Banksy‘. Und man sieht, wie lang der Schatten der jüngeren Geschichte hier dargestellt ist. Auch Patriotismus begegnet uns, aber möglicherweise braucht es den, um Krisen zu überstehen? – Wir kommen zuletzt durch Viertel, die noch längst nicht so schmuck sind wie die Innenstadt, wir erfahren, dass etwa eine Viertelmillion (!) Bürgerkriegsflüchtlinge in Charkow/Charkiv Aufnahme gefunden hat. Drei Tage sind zu kurz, um unter Oberflächen zu schauen; wir genießen die Herzlichkeit, die uns entgegengebracht wird, und auch die Normalität hier, denn so exotisch wie erwartet ist es bei Weitem nicht: Wir sind in Europa. Und als dann nach Landung in München gleich die erste S-Bahn ausfällt, fühlen wir uns schnell wieder zuhause.
Ein Gedanke zu „Charkow / Charkiv (2019)“